Myelodysplastische Syndrome (Stand März 2011)
Erstellung der Leitlinie
Stand: März 2011
1 Definition und Basisinformationen
Myelodysplastische Syndrome (MDS) sind Erkrankungen der hämatopoietischen Stammzelle, die durch Dysplasien von Blut- und Knochenmarkzellen mit hämatopoietischer Insuffizienz und erhöhtem Risiko der Entwicklung einer akuten myeloischen Leukämie gekennzeichnet sind.
Die MDS zählen mit einer Inzidenz von ca. 4-5/100.000 Einwohnern pro Jahr zu den häufigsten malignen hämatologischen Erkrankungen [1]. Im Alter über 70 steigt die Inzidenz auf >30/100.000 an. Das mediane Erkrankungsalter liegt bei ca. 75 Jahren, Frauen sind etwas seltener betroffen als Männer. Therapieassoziierte MDS (ca. 10%) können nach vorangegangener Chemo- und/oder Strahlentherapie auftreten, in ca. 90% der Fälle läßt sich eine Noxe nicht sicher nachweisen. Leitbefund ist meist eine Anämie, oft auch Bi-oder Panzytopenie. Das Knochenmark ist oft normo- oder sogar hyperzellulär, in ca. 10% der Fälle hypozellulär. Diagnostisch wegweisend sind Dysplasiezeichen einer oder mehrerer Zellreihen. Mindestens 10% der Zellen einer Reihe müssen eindeutige Dysplasiezeichen aufweisen, damit die Diagnose eines MDS gestellt werden kann. Über 50% der Patienten weisen bei Diagnosestellung chromosomale Aberrationen auf [2].
2 Klinisches Bild
Entsprechend den peripheren Zellwerten stehen Anämiesymptomatik, seltener Infektionen und Blutungen im Vordergrund. Eine Organomegalie und Lymphome sind selten. Über die Hälfte der Patienten ist zum Diagnosezeitpunkt transfusionsbedürftig.
3 Diagnostik und Differentialdiagnosen
Die MDS sind Ausschlußdiagnosen, denn zahlreiche Dysplasiezeichen können auch im Kontext anderer, auch nicht hämatologischer Erkrankungen auftreten. Daher ist es wichtig, andere hämatologische und nicht-hämatologische Erkrankungen mit geeigneten Methoden auszuschließen (Tabelle 1). Zur MDS Diagnostik gehören die Anfertigung eines Blutbilds, Differentialblutbilds und eine Knochenmarkuntersuchung (Tabelle 2). Im Mittelpunkt steht die Zytomorphologie einschließlich Eisenfärbung, idealerweise auch Peroxidase-, PAS- und Esterasefärbung, um Dysplasiezeichen zu identifizieren und den Anteil monozytärer Zellen und Ringsideroblasten zu ermitteln. Zytomorphologisch sollte zudem eine möglichst exakte Bestimmung des peripheren und medullären Blastenanteils erfolgen. Obligat ist außerdem die Festlegung, ob die Dysplasiezeichen nur eine Zellreihe betreffen oder 2 oder 3 Zellreihen betroffen sind. Mit Hilfe dieser Parameter kann dann eine Klassifizierung in eine der WHO Typen vorgenommen werden (Tabelle 4 und 5) [3, 4].
Die traditionell den MDS zugeordneten Typen werden in der aktuellen WHO Klassifikation in 2 große Gruppen eingeteilt: Neben den reinen MDS wird eine Gruppe von gemischten myelodysplastisch-myeloproliferativen Neoplasien abgegrenzt. Der von der akuten Leukämie diskriminierende Blastenanteil liegt in Blut und Knochenmark bei 20%. Obligat aus diagnostischen, aber auch aus prognostischen und therapeutischen Erwägungen ist eine Chromosomenanalyse. Hilfreich ist zudem eine histologische Untersuchung einer Beckenstanze, insbesondere zur Beurteilung der Zellularität und einer möglicherweise vorliegenden Fibrose.
Einen zunehmenden Stellenwert erlangt die Immunphänotypisierung als Hilfsmittel zum Abschätzen des Blastenanteils und zur Darstellung von Dysplasiezeichen. Allerdings darf die Genauigkeit dieser Methode in der Routine nicht überschätzt werden. Molekularbiologische Untersuchungen zum Nachweis von PDGFR-alpha/beta und bcr-abl sind zur Abgrenzung einer CMML von verschiedenen Formen der myeloproliferativen Syndrome erforderlich. Außerdem ist der Nachweis von JAK-2 Mutationen für die Klassifizierung von Belang. Die Bestimmung von LDH, Ferritin und endogenem Erythropoetinspiegel komplettiert die Basisdiagnostik.
Differentialdiagnose | Diagnostisches Verfahren |
Aplastische Anämie, Pure-Red-Cell-Aplasia (PRCA) | Histologie, Zytologie |
toxischer KM-Schaden (Alkohol, Blei, NSAR, etc.) | Anamnese |
Reaktive KM-Veränderungen (Sepsis, HIV, chronische Infekte, Tbc, Autoimmunerkrankungen, etc.) | Zytologie, Anamnese, Labor |
Monozytose anderer Genese | Anamnese, Labor |
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) | Immunphänotypisierung |
Immunthrombozytopenie | Zytologie, Anamnese, Verlauf |
Megaloblastäre Anämien | Vitamin B12-/Folsäurespiegel |
Hyperspleniesyndrom | Anamnese/Klinik/Splenomegalie |
Akute Leukämien (speziell Erythroleukämie, FAB-M6) | Zytologie |
Myeloproliferative Erkrankungen (speziell aCML, OMF) | Histologie, Zytogenetik, Molekularbiologie |
Haarzellenleukämie, LGL | Zytologie, Immunphänotypisierung |
Kongenitale dyserythropoietische Anämien (selten) | Molekularbiologie |
Peripheres Blut | Knochenmark |
Blutbild | Zytologie mit Fe, POX, PAS, Esterase |
Retikulozyten | Zytogenetik, ggf. mit FISH (Chromosomen 5,7,8) |
Differentialblutbild | Histologie |
LDH | ggf. Immunphänotypisierung |
Ferritin | JAK-2, bcr-abl, PDGFR-alpha/beta |
Erythropoetin | |
Folsäure | |
Vitamin B12 | |
Ggf. HLA-Typisierung |
MDS-Subtyp | Blut | Knochenmark |
Refraktäre Zytopenie mit unilineärer Dysplasie (RCUD) RA refr. Anämie RN refr. Neutropenie RT refr. Thrombopenie | <1% Blasten Uni- oder Bizytopenie | <5% Blasten, Dysplasien in ≥10% der Zellen einer Reihe |
Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten (RARS) | Anämie, keine Blasten | <5% Blasten, ≥15% Ringsideroblasten innerhalb der Erythropoiese, ausschließlich Dyserythropoiese |
Refraktäre Zytopenie mit multilineären Dysplasien (RCMD) mit oder ohne Ringsideroblasten | <1% Blasten Zytopenie(n) <1000/µl Mono | <5% Blasten, Dysplasiezeichen ≥10% der Zellen von 2-3 Zellreihen |
MDS mit isolierter del(5q) | <1% Blasten Anämie, Thrombozyten oft vermehrt | meist typische mononukleäre Megakaryozyten, <5% Blasten, isolierte del(5q) Anomalie |
Refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung I RAEB I | Zytopenie(n), <5% Blasten, <1000/µl Mono | Uni- oder multilineäre Dysplasien, Blasten 5-9%, keine Auerstäbchen |
Refraktäre Anämie mit Blastenvermehrung II RAEB II | Zytopenie(n), <20% Blasten, <1000/µl Mono | Uni- oder multilineäre Dysplasien, Blasten 10-19%, Auerstäbchen möglich |
Unklassifizierte MDS a) RCUD mit Panzytopenie b) RCMD/RCUD mit 1% Blasten im Blut c) MDS-typische chromosomale Aberration ohne klare Dysplasiezeichen | <1% Blasten, <1000/µl Mono | <5% Blasten |
Typ | Blut | Knochenmark |
Chronische Myelomonozytäre Leukämie I (CMML I) | <5% Blasten Uni- oder Bizytopenie >1000/µl Monozyten/µl keine Auerstäbchen | <10% Blasten, Dysplasien in >10% der Zellen in 1-3 Reihen, keine Auerstäbchen |
Chronische Myelomonozytäre Leukämie II (CMML II) | <20% Blasten Uni- oder Bizytopenie >1000/µl Monozyten/µl Auerstäbchen möglich | <20% Blasten, Dysplasien in >10% der Zellen in 1-3 Reihen, Auerstäbchen möglich |
Refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten und Thrombozytose (RARS-T) | Zytopenie(n), Thrombozyten >450.000/µl <1% Blasten | <5% Blasten, >15% Ringsideroblasten innerhalb der Erythropoiese, Dyplasien in >10% der Zellen in 1-3 Reihen, keine Auerstäbchen, oft JAK-2 Mutationen |
4 Prognose
Zur Abschätzung der Prognose können neben Alter, Geschlecht und Komorbiditäten vor allem krankheitsbiologische Parameter herangezogen werden. Die wichtigsten Prognoseparameter sind medullärer Blastenanteil und zytogenetische Befunde, gefolgt von Transfusionsbedarf, Zellwerten und LDH [4]. Es stehen zwei validierte Prognosesysteme zur Verfügung, die zur Abschätzung des individuellen Risikos des Patienten Anwendung finden können (IPSS, WPSS, Tabellen 5 und 6) [5-7]; hierzu ist die Verfügbarkeit der zytogenetischen Analyse des Knochenmarkes des Patienten erforderlich. Mithilfe dieser Prognosescores werden die Patienten verschiedenen Risikogruppen zugeordnet, wodurch die Therapieplanung unter Berücksichtigung von Alter, Allgemeinzustand und Wunsch des Patienten wesentlich beeinflußt wird. Aktuell wird anhand großer Datensätze aus internationalen Verbundanalysen der Einfluß chromosomaler Veränderungen (im IPSS relativ niedrig gewichtet) im Verhältnis zur Anzahl der Knochenmarkblasten (im IPSS relativ hoch gewichtet) neu definiert[8].
Score - Wert | |||||
0 | 0,5 | 1 | 1,5 | 2 | |
Blasten (%) | < 5 | 5-10 | - | 11-20 | 21-30 |
Karyotyp* | günstig | intermediär | schlecht | ||
Zahl der Zytopenien** | 0/1 | 2/3 |
* günstig: normal, -Y, del(5q), del(20q). schlecht: komplex (≥ 3 Anomalien) oder Aberrationen auf Chromosom 7. intermediär: andere.
** Hämoglobin <100 g/l, Neutrophile <1,8 x 109/l, Thrombozyten <100 x 109/l.
Risiko-Score | Punkte |
Low risk | 0 |
Intermediate risk I | 0,5 - 1 |
Intermediate risk II | 1,5 - 2 |
High risk | > 2,5 |
Score - Wert | ||||
0 | 1 | 2 | 3 | |
WHO Typ | RCUD / RARS / 5q- | RCMD | RAEB I | RAEB II |
Karyotyp* | günstig | intermediär | schlecht | |
Transfusionen** | nein | ja |
* günstig: normal, -Y, del(5q), del(20q). schlecht: komplex (≥ 3 Anomalien) oder Aberrationen auf Chromosom 7. intermediär: andere.
** mindestens 1 Erythrozytenkonzentrat alle 8 Wochen über 4 Monate
Risiko-Score | Punkte |
Very low risk | 0 |
Low risk | 1 |
Intermediate risk | 2 |
High risk | 3-4 |
Very high risk | 5-6 |
5 Therapie der Niedrigrisiko-MDS (IPSS LOW und IPSS INT-1)
5.1 Therapieindikation
Bei einem kleinen Teil der MDS-Patienten ist auf Grund der geringgradigen Zytopenie eine „watch and wait“ Strategie ausreichend. Bei einem wesentlichen Teil der Patienten stellt jedoch die Anämie die häufigste Indikation zum Therapiebeginn dar. Eine Anämie führt vor allem bei Älteren Patienten zur Fatigue, zu erhöhter Sturzhäufigkeit mit Frakturgefahr, zu verminderter Kognition, zu verminderter Lebensqualität und zu einem verkürzten Überleben.
Wenn ein MDS-Patient therapiebedürftig ist, bildet die Basis einer jeglichen Behandlung eine gute supportive Therapie, die sowohl Transfusionen als auch die bedarfsweise Gabe von Antibiotika sowie die suffiziente Behandlung von Begleiterkrankungen einschließt.
Die Indikation für eine krankheitsspezifische Therapie wird in Abhängigkeit von Erkrankungsstadium, Alter und klinischem Zustand des Patienten getroffen. Für die meisten Patienten steht die Erhaltung bzw. Verbesserung der Lebensqualität und der Autonomie bei Älteren im Vordergrund der therapeutischen Bemühungen.
5.2 Supportive Therapie
Hauptbestandteil der supportiven Therapie ist die Transfusion von Erythrozytenkonzentraten in Abhängigkeit vom klinischen Zustand (nicht in Abhängigkeit vom Hb-Wert; Ausnahme: Patienten mit schwerer koronarer Herzkrankheit und/oder anderen schweren Begleiterkrankungen sollten mit dem Hb-Wert über 10 g/dl gehalten werden).
Klinisch signifikante Blutungen sind vor allem ab einem Schwellenwert von < 10 Gpt/l Thrombozyten zu erwarten. Die Substitution von Thrombozytenkonzentraten sollte jedoch, wenn möglich, nicht prophylaktisch erfolgen (Ausnahme: Fieber, schwere Infektion) sondern nur im Falle von klinischen Blutungszeichen (Gefahr der Allo-Immunisierung). Dabei muß in jedem Fall die Therapieentscheidung individuell an die Gegebenheiten des Patienten und der versorgenden Einrichtung (Praxis, Spezialambulanz mit Notfallversorgung etc.) angepasst werden.
Die Anwendung von Antibiotika im Falle von Infektionen (auch Bagatell-Infektionen) sollte großzügig erfolgen, insbesondere bei neutropenen Patienten. Eine regelmäßige Antibiotika-Prophylaxe ist nicht empfohlen (bisher keine eindeutigen Daten für einen Nutzen hinsichtlich der Anzahl und Schwere von Infektionen bei Patienten mit MDS).
Die maximale Rekompensation von Begleiterkrankungen (Lungenerkrankungen, Herzerkrankungen etc.) ist wichtiger Teil der Gesamttherapie.
5.3 Eisenchelatoren
Polytransfundierte Patienten sind längerfristig durch die begleitende sekundäre Hämochromatose (Hepatopathie, Kardiomyopathie) bedroht. Deshalb kann bei IPSS- und WPSS-Niedrigrisiko Patienten mit einer Lebenserwartung von mehr als 2 Jahren, die mindestens 20 Erythrozytenkonzentrate erhalten bzw. einen Serumferritinspiegel von >1000 ng/ml haben, eine Therapie mit Eisenchelatoren erwogen werden (Evidenzstärke Ib, Empfehlungsgrad A) [9-11]. Prospektive randomisierte Studien hinsichtlich der Effektivität und dem Einfluß auf das Langzeitüberleben bei Patienten mit MDS werden zur Zeit durchgeführt, die Ergebnisse sind allerdings wegen der langen Nachbeobachtungszeit in frühestens 5 Jahren zu erwarten.
5.4 Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
Für den Granulozyten-Kolonien stimulierenden Faktor (G-CSF) existieren bis heute keine Daten aus vollpublizierten prospektiv randomisierten klinischen Studien, die den Einsatz beim MDS (von Ausnahmen abgesehen - siehe unten) rechtfertigen. Die Behandlung mit G-CSF führt lediglich zu einem transienten Anstieg der Zahl der neutrophilen Granulozyten. Als Ausnahmeindikation ist nur die wiederholte komplizierte Infektion bei schwerer Neutropenie akzeptiert (Evidenzstärke III, Empfehlungsgrad C).
Die Therapie mit Erythropoese stimulierenden Faktoren (ESS, klassisch: Erythropoetin 150-300 U/kg KG 3-mal/Woche s. c. bzw. 500 U/kg wöchentlich s. c.; Verzögerungserythropoetin: 150 µg bzw. 300 µg wöchentlich s. c.) führt bei 20-25 % der behandelten Patienten zu einer Transfusionsunabhängigkeit. Die Kombination mit niedrigen Dosen von G-CSF (100 µg G-CSF s. c. 2-3 mal pro Woche mit dem Hintergrund, die Wirksamkeit von Erythropoetin zu modulieren, nicht, um die Leukozyten anzuheben - s. o.) verbessert die Wirkung von Erythropoetin, insbesondere bei Patienten mit RARS, die sonst häufig refraktär auf eine alleinige Erythropoetin-Behandlung sind.
Unter Berücksichtigung der prädiktiven Faktoren
- Erythropoetinspiegel <200 (500) mIE/ml
- geringe Transfusionsabhängigkeit (maximal 2 Ek in 8 Wochen)
- IPSS low-risk/INT-1 MDS
kann ein Ansprechen bei bis zu 75 % der entsprechend ausgewählten Patienten erreicht werden (Evidenzstärke Ib, Empfehlungsgrad A) [12].
Die Verfügbarkeit von thrombopoetischen Wachstumsfaktoren (Romiplostim, Eltrombopag) bietet die Möglichkeit, die (selten klinisch relevante) schwere Thrombozytopenie bei Niedrigrisiko MDS-Patienten erfolgreich zu behandeln. Erste Ergebnisse aus Phase II Studien deuten darauf hin, daß bei ca. 50 % der Patienten mit Thrombozytenwerten unter 50.000 /µl eine signifikante Verbesserung der Thrombopoese verbunden mit einer geringeren Inzidenz von Blutungsereignissen erzielt werden kann (Evidenzstärke IIa, Empfehlungsgrad B).
5.5 Histon-Deacetylase-Inhibitoren (HDAC-Inhibitoren)
Valproinsäure führt beim MDS zu einem Ansprechen der Erythropoese bei bis zu 50 % der behandelten Patienten. Die Therapie mit Valproinsäure wird in ansteigender Dosierung, beginnend mit 500 mg/d, durchgeführt, wobei Blutspiegelkontrollen mit Zielspiegeln von 50-100 µg/l zur Dosisfindung notwendig sind. Die Therapie mit Valproinsäure stellt beim low-risk MDS, welches nicht für eine Therapie mit Wachstumsfaktoren oder immunmodulatorischen Substanzen in Frage kommt, eine mögliche Option dar [13]. Die Effektivität weiterer HDAC-Inhibitoren, z. B. LBH589, wird zur Zeit in klinischen Studien geprüft.
5.6 Immunmodulatorische Substanzen
Die Weiterentwicklung von Thalidomid hat zur Generierung sog. immunmodulatorischer Derivate (IMiDs) geführt. Die Wirkungsweise ist noch nicht vollständig verstanden, beinhaltet jedoch neben der Inhibierung von TNF-alpha auch eine Aktivierung von T- und NK-Zellen sowie direkte proapoptotische Mechanismen.
Die Behandlung mit Lenalidomid führt bei etwa 60-70 % der MDS-Patienten mit einer singulären Deletion am Chromosom 5 (einschließlich 5q- Syndrom) und einer transfusionspflichtigen Anämie sowie einem medullären Blastenanteil von <5 % zum Ansprechen mit dem Ergebnis einer kompletten Transfusionsunabhängigkeit sowie dem Nachweis einer zytogenetischen Remission (Evidenzstärke Ib, Empfehlungsgrad A) [14].
Die minimale wirksame Dosis ist bis jetzt nicht definiert, Standardbehandlung ist 10 mg/Tag mit entsprechender Anpassung der Dosis in Abhängigkeit der Thrombozytenzahl. Lenalidomid zeigt auch Aktivität bei Patienten mit MDS ohne Veränderungen am Chromosom 5, die Ansprechraten liegen da bei 25-40 % (Evidenzstärke IIa, Empfehlungsgrad B) [15].
Die Inhibition des mTOR-Signaltransduktionsweges ist eine weitere Option, das gestörte Proliferations- und Differenzierungsverhalten der Hämatopoese beim MDS zu beeinflussen. Entsprechende klinische Studien, z. B. mit Temsirolimus, werden zur Zeit bei allen Risikoformen des MDS durchgeführt.
5.7 Immunsuppressive Therapie
Die Behandlung mit immunsuppressiven Medikamenten (ähnlich zur Therapie der schweren aplastischen Anämie) beruht auf den positiven Erfahrungen bei einer Subgruppe von Patienten, die wie folgt charakterisiert sind:
- hypozelluläres Knochenmark
- Frühform des MDS (IPSS LOW und INT-1)
- geringe Transfusionsbedürftigkeit
Etwa 30 % dieser Patienten erreichen Transfusionsfreiheit, wobei insbesondere Patienten, die HLA-DR15 positiv sind, von dieser Behandlung profitieren. Wegen der teilweise starken Nebenwirkungen und dem noch nicht klar definierten Patientengut sollte eine immunsuppressive Behandlung beim MDS ausschließlich an einem hämatologischen Zentrum und im Rahmen kontrollierter klinischer Studien durchgeführt werden[16].
Die genaue Selektion der Patienten für eine immunsuppressive Therapie mit Alemtuzumab führt zu einer Ansprechrate von etwa 80 % bei Niedrig-Risiko MDS, diese nebenwirkungsreiche Behandlung sollte jedoch gleichfalls ausschließlich an einem hämatologischen Zentrum und im Rahmen kontrollierter klinischer Studien durchgeführt werden (Evidenzstärke IIa, Empfehlungsgrad B)[17].
6 Therapie der Hochrisiko-MDS (IPSS INT-2 und IPSS HIGH)
6.1 Therapieindikation
Patienten mit Hoch-Risiko MDS (IPSS INT-2 und HIGH) haben unbehandelt eine ungünstige Prognose mit einem hohen Risiko der Transformation in eine sekundäre akute Leukämie und einem medianen Überleben von nur 12 Monaten [5, 7]. Neben der supportiven Therapie sollte, abhängig vom Krankheitsrisiko und von den Begleiterkrankungen, ab Diagnosestellung eine Behandlungsoption für jeden einzelnen Patienten in Betracht gezogen werden.
6.2 Intensive Chemotherapie
Die intensive Chemotherapie analog der Behandlung einer AML ist außerhalb von Studien keine etablierte Therapieoption für Hochrisiko MDS Patienten. Ob eine intensive Chemotherapie im Einzelfall sinnvoll ist (z.B. zur Remissionsinduktion vor geplanter allogener Stammzelltransplantation), kann nur individuell unter Berücksichtigung des Nutzen-Risikoverhältnisses entschieden werden.
6.3 Epigenetische Therapie
Sowohl 5-Azacytidin als auch 5-Aza-deoxycitidine sind Pyrimidin-Analoga, die an Stelle von Cytosin in die DNA eingebaut werden. Beide Substanzen haben eine direkte zytotoxische Wirkung auf proliferierende Zellen. Zusätzlich verhindern sie die Methylierung von CPG-Abschnitten (sog. CPG-Inseln) in der DNA, in dem sie das Enzym DNA-Methyltransferase (DNMT) irreversibel binden und damit hemmen.
Die genannten Substanzen sind in mehreren Phase II und randomisierten Phase III Studien geprüft worden. Eine Behandlung mit 5-Azacytidin bei Patienten mit MDS konnte in zwei unabhängigen randomisierten Studien einen Vorteil gegenüber einer alleinigen Supportivtherapie aufweisen [18, 19]. Dieser Vorteil drückt sich in beiden Studien in einem absoluten Unterschied im Gesamtüberleben von 6-9 Monaten aus, und war in der zweiten randomisierten Studie (AZA-001 Studie) mit der weitaus größeren Fallzahl auch statistisch signifikant. Die Behandlung mit 5-Azacytidin war in dieser Studie gegenüber einer Standardtherapie mit alleiniger Supportivbehandlung oder mit niedrig dosiertem Ara-C (low-dose Ara-C, LDAC) oder intensiver anthrazyklin-basierter Chemotherapie in Bezug auf medianes Überleben, Transfusionsfreiheit und Verbesserung der peripheren Blutwerte überlegen. Die AZA-001 Studie ist somit die erste randomisierte Studie, die für eine therapeutische Substanz einen Überlebensvorteil für Patienten mit Hochrisiko MDS zeigen konnte.
Demgegenüber konnte in der aktuellen randomisierten Phase III Studie der EORTC für Patienten mit Hochrisiko MDS kein Überlebensvorteil von einer Behandlung mit 5-Aza-deoxycitidine nachgewiesen werden. Eine weitere randomisierte Phase III Studie aus den USA konnte ebenfalls keinen statistisch signifikanten Überlebensvorteil für Patienten, die mit dieser Substanz behandelt worden waren, nachweisen, obwohl die Ansprechraten und das progressionsfreie Überleben unter der Therapie hier ebenfalls signifikant besser waren als unter bester supportiver Behandlung [20].
Patienten mit
- IPSS INT-2/HIGH
- CMML mit < 13.000 /µl Leukozyten (dysplastische Variante) und
- AML nach WHO mit multilineärer Dysplasie und bis zu 30% Blasten im Knochenmark
können mit 5-Azacytidin behandelt werden, wenn sie nicht für eine allogene Stammzelltransplantation in Frage kommen (Evidenzstärke Ib, Empfehlungsgrad A). Das Standardschema AZA-7 wird in der Dosierung von 75 mg/m2an 7 Tagen subkutan oder i.v. verabreicht. Die Zyklen werden in 28-tägigen Abständen wiederholt. Da der Effekt der epigenetischen Modulation erst langsam eintritt, sollten mindestens 6 Zyklen 5-Azacytidin verabreicht werden, bevor eine Beurteilung des Ansprechens vorgenommen werden kann. Bei Ansprechen (mindestens Verbesserung der peripheren Blutwerte) sollte die Therapie fortgeführt werden. Die optimale Zykluszahl ist bisher nicht definiert, da auch sehr späte Remissionen beschrieben sind. Es ist davon auszugehen, dass Patienten, die ansprechen, auch von der Fortführung der Therapie profitieren. Die Anwendung von spezifischen Prognosefaktoren erlaubt es, Patienten für die Behandlung mit 5-Azacytidin zu selektieren, die eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Ansprechen und eine erfolgreiche Verlängerung des Gesamtüberlebens haben [21]. Die Therapie sollte bis zum Verlust des Ansprechens fortgesetzt werden (Evidenzstärke IV, Empfehlungsgrad D). Derzeitige Studien untersuchen den Stellenwert der Kombination von demethylierenden Substanzen mit Histondeacetylase-Inhibitoren (HDAC-Inhibitoren) bzw. Lenalidomid.
6.4 Nicht - intensive Chemotherapie
Nicht intensive Chemotherapie wie niedrig dosiertes Cytarabin (2 x 10mg/m² Tag 1-14) oder niedrig dosiertes Melphalan (2mg/d) wurde in der Vergangenheit in Ermangelung besserer Alternativen bei Patienten mit fortgeschrittenem MDS eingesetzt bzw. in kleinen zumeist Phase II Studien geprüft. Mit der Verfügbarkeit demethylierender Substanzen rückt in Zukunft die Bedeutung nicht intensiver Chemotherapie zur primären Therapie des Hochrisiko MDS in den Hintergrund. Daher kann eine solche Behandlung nach Ausschöpfung anderer Optionen wie der epigenetischen Therapie durchaus im Einzelfall eine sinnvolle Alternative darstellen (Evidenzstärke IIa, Empfehlungsgrad B).
6.5 Allogene Stammzelltransplantation
Die allogene Stammzelltransplantation stellt das bisher einzige potentiell kurative Verfahren in der Behandlung der MDS dar. Mit der Verbesserung supportiver Maßnahmen bzw. einer Reduktion der Intensität der Konditionierung ist es in den vergangenen Jahren gelungen, die Indikation auch auf Patienten bis 70 Jahre zu erweitern. Trotzdem bleibt dieses Verfahren immer ein individuelles Vorgehen insbesondere bei Patienten > 60 Jahre. Jeder geeignete MDS Patient sollte deshalb bei Diagnosestellung in einem Transplantationszentrum vorgestellt werden (Evidenzstärke 4, Empfehlungsgrad D) [22].
6.6 Zusammenfassung
Bei allen Patienten mit Hochrisiko-MDS sollte zunächst die Möglichkeit einer allogenen Stammzelltransplantation geprüft werden. Alle Patienten, die sich nicht für dieses Verfahren qualifizieren, sollten eine Behandlung mit 5-Azacytidin erhalten. Bei Progress sollten Patienten, wenn möglich, in laufende klinische Studien eingeschlossen werden.
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- Itzykson R, Thépot S, Quesnel B et al. Prognostic factors for response and overall survival in 282 patients with higher-risk myelodysplastic syndromes treated with azacitidine. Blood. 2011;117:403-411. DOI:10.1182/blood-2010-06-289280
- Deeg HJ. Optimization of transplant regimens for patients with myelodysplastic syndrome (MDS). Hematology Am Soc Hematol Educ Program. 2005;167-173. PMID: 16304376
8 Medikamentöse Therapie - Protokolle
9 Anschriften der Verfasser
III. Medizinische Klinik
Universitätsmedizin Mannheim
Theodor-Kutzer-Ufer 1-3
D-68167 Mannheim
W.K.Hofmann@umm.de
Medizinische Klinik und Poliklinik I
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Fetscherstrasse 74
D-01307 Dresden
Uwe.Platzbecker@uniklinikum-dresden.de
Kplus Verbund - St. Lukas Klinik
Schwanenstraße 132
D-42697 Solingen
mahlknecht@k-plus.de
Universitätsklinik für Innere Medizin V (Hämatologie und Onkologie)
Medizinische Universität
Anichstraße 35
A-6020 Innsbruck
Reinhard.Stauder@i-med.ac.at
Universitätsspital Basel
Hämatologie
Petersgraben 4
CH-4031 Basel
Jakob.Passweg@bluewin.ch
Klinik für Hämatologie, Onkologie und Klinische Immunologie
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Moorenstrasse 5
D-40225 Düsseldorf
Germing@med.uni-duesseldorf.de
10 Erklärung zu möglichen Interessenkonflikten
nach den Regeln der DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und den Empfehlungen der AWMF (Version vom 23. April 2010) und internationalen Empfehlungen
Name | Anstellung / Führungsposition | Beratung / Gutachten | Aktien/ Fonds | Patent / Urheberrecht/ Lizenz | Honorare | Finanzierung wissenschaftlicher Untersuchungen | Andere finanzielle Beziehungen |
Hofmann |
Land Baden-Württemberg Land Berlin (bis 2009) |
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- | Amgen, Celgene, Novartis | Amgen, Celgene, Novartis |
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Germing | Universitätsklinikum Düsseldorf |
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- | Amgen, Celgene, Glaxo Smith Kline | Amgen, Celgene, Novartis |
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Mahlknecht | Universität des Saarlandes | Amgen,Celgene, Merck Sharp & Dohme |
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- | Amgen, Celgene, Novartis, S&K | Celgene, Novartis, Willmar Schwabe | Boehringer Ingelheim, Celgene, Genzyme |
Platzbecker | Universitätsklinikum Dresden | Amgen, Celgene, Novartis, GSK |
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