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Inhaltsverzeichnis

Psychoonkologie

Stand September 2018
Dies ist die aktuell gültige Version des Dokuments

1Allgemeine Informationen

Die Psycho-Onkologie widmet sich insbesondere den psychischen und sozialen oder familiären Faktoren, die Betroffene und deren Angehörige mit einer Krebserkrankung zusammenhängen können. Neben individuellen und familiären Aspekten der Krankheitsbewältigung von Krebspatienten, wird sich mit psychischen Prozessen auf einer Vielzahl von Ebenen (z.B. psychosomatisch, emotional, Verhaltensebene) befasst. Die psychoonkologische Versorgung ist im Rahmen der Prävention, Früherkennung, Diagnostik, Behandlung, Rehabilitation, Nachsorge und palliativen Versorgung sehr bedeutsam [1].

2Gut zu wissen

2.1Wozu brauche ich einen Psychoonkologen?

Die Psychoonkologie gehört zur Onkologie, um eine nach heutigen Maßstäben geforderte ganzheitliche Patientenversorgung leisten zu können. Psychoonkologen sind bspw. u.a. dazu ausgebildet, eine wissenschaftliche geprüfte Kurz-Befragung („Screening“) so einzusetzen, dass sie den behandelnden Onkologen und der onkologischen Pflege innerhalb kürzester Zeit eine für die Krebstherapie sinnvolle Auskunft zur Frage „Wie belastet hat sich der Patient in der letzten Woche einschließlich heute gefühlt?“ geben können. Aus diesem Befund heraus wird gemeinsam im Behandlungsteam eine Art „Strategie“ der nächsten wichtigen Schwerpunkte für die Krebstherapie abgeleitet, bspw. hinsichtlich Arzt-Patient-Kommunikation oder Maßnahmen zur Einhaltung der Therapiedisziplin.

Dieses Screening ist heutzutage Bestandteil einer Krebstherapie. Einerseits leiden etwa ein Drittel aller Krebspatienten innerhalb der ersten fünf Jahre nach Erstdiagnose der Krebserkrankung, unter seelischen Belastungen, welche mittels Psychotherapie erfolgreich behandelt werden können. Mehr als die Hälfte der Krebspatienten berichten im Verlauf der Tumortherapie hohe psychische Belastungen mit einem professionellen psychosozialen Versorgungsbedarf. Andererseits sind genau diese seelischen Belastungen ganz menschlich. Sie sollten im Prinzip ganz ähnlich wie eine körperliche Reaktion auf die Krebserkrankung oder die Krebstherapie aktiv angegangen oder behandelt werden. Im Vergleich zu nicht krebskranken Menschen sind Krebspatienten häufiger psychisch belastet und berichten von verminderter Lebensqualität. In der klinischen Praxis ist es allerdings im Einzelfall sehr schwierig, die Patienten zu identifizieren, welche zu dieser belasteten Gruppe gehören und demzufolge eine professionelle psychosoziale Unterstützung benötigen.

In der Konsequenz wird empfohlen, ein sog. Distress-Screening zur systematischen Untersuchung aller Krebspatienten durchzuführen. Damit ist der Einsatz eines kurzen psychologischen Tests gemeint, der den Umfang psychosozialer Belastung erfasst. Bei Überschreiten eines wissenschaftlich geprüften und fest definierten Schwellenwerts (Cut-off-Wert) wird die Notwendigkeit professioneller, psychoonkologischer Unterstützung angezeigt [234]. Eine professionelle psychoonkologische Unterstützung von Beginn der Krebstherapie an ist zu empfehlen, weil sie [34]:

  • psychische und somatische Belastungen reduzieren,

  • der Entstehung psychischer Störungen vorbeugen,

  • die Krebs-Behandlung optimieren (Patientenrolle, Mitarbeit / Akzeptanz),

  • Familien (Kinder, Eltern, Partner) stabilisieren,

  • den Patienten zur Inanspruchnahme seiner Rechte verhelfen,

  • die Krankheitsbewältigung unterstützt und die Lebensqualität verbessern,

  • die Teilhabe am normalen Leben wieder ermöglichen kann.

2.2Was kann Psychotherapie leisten?

Junge Erwachsene sind im Unterschied zu älteren Patienten noch auf Jahrzehnte mit den weitreichenden Folgen der Krebsdiagnose und -behandlung konfrontiert. Psychotherapeutische Methoden können eine Vielzahl emotionaler Belastungen erfolgreich behandeln und die körperlichen und psychischen Bereiche der Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig verbessern.

2.3Wer darf denn Psychotherapie?

Psychotherapeut ist, wer eine mehrjährige, staatlich geregelte Ausbildung erfolgreich absolviert hat. Ein Psychotherapeut hat wie ein Arzt die sog. Approbation als staatlich anerkannte Zulassung zur Ausübung der Heilkunde. Psychotherapeuten rechnen also über gesetzliche Krankenkassen ab.

Folgende Gruppen dürfen sich "Psychotherapeut" nennen:

  • Psychologische Psychotherapeuten

  • Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten

  • Fachärzte, deren Ausbildung Psychotherapie umfasst

  • Ärzte mit einer Zusatz-Weiterbildung in Psychotherapie

Falls Sie im Internet nach einem Psychotherapeuten suchen, welcher in psychotherapeutischer Heilkunde ausgebildet ist, ergeben sich daraus folgende, für Sie wichtige Unterscheidungen:

  • Psychologe ≠ Psychotherapeut

  • Heilpraktiker für Psychotherapie ≠ Psychotherapeut

  • Psychologische Beratung ≠ Psychotherapie

  • Coaching ≠ Psychotherapie

  • Ehe- und Partnerschaftsberatung ≠ Psychotherapie

  • Gesprächstherapie ≠ Psychotherapie

2.4Wer darf denn Psychoonkologie?

Obwohl der Berufsabschluss des Psychoonkologen bisher kein gesetzlich geschützter Begriff ist, existieren seit 2014 verbindliche Kriterien zur Einstellung von Psychoonkologen in Kliniken und bei der Beantragung von Zulassungen für eine Niederlassung als Psychotherapeut oder Facharzt. Entsprechend dem Grundsatz der Interdisziplinarität können prinzipiell verschiedene Berufsgruppen in der Psychoonkologie tätig sein. Hier sind in erster Linie Psychologen, Ärzte, Sozialarbeiter/Sozialpädagogen und andere sozialwissenschaftliche Berufsgruppen zu nennen. Auf folgende Abstufung und Nennung folgender Berufsabschlüsse ist zu achten [34]:

  • Als Grundqualifikation für eine psychoonkologische Tätigkeit sollte der Abschluss eines Hochschulstudiums in den Fächern Medizin, Psychologie oder anderen Fächern wie Sozialarbeit oder Pädagogik nachgewiesen werden. Zudem sollte eine spezifische psychoonkologische Fort- und Weiterbildung vorliegen, die durch ein anerkanntes Zertifikat (z.B. „DKG-zertifiziert“) nachgewiesen werden muss und in der Namensnennung angezeigt wird (DKG, Deutsche Krebsgesellschaft).

  • Für spezifische psychoonkologische Tätigkeiten wie Diagnostik oder psychotherapeutische Behandlung ist eine sogenannte heilkundliche Qualifikation (ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten) unbedingt erforderlich. Das heißt, wenn eine psychoonkologische Diagnostik oder Behandlung geplant ist, dürfen das nur Psychotherapeuten oder Fachärzte mit der o.g. spezifischen DKG-zertifizierten Ausbildung ausführen.

Für die in der Psychoonkologie tätigen künstlerischen Therapeuten (Musik-, Tanz-, Kunsttherapeuten u.a.) ist ein entsprechendes Bachelor- oder Masterstudium bzw. eine berufsbegleitende Weiterbildung Voraussetzung, die den Qualitätsstandards der jeweiligen Fach- und Berufsverbände der „Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerischer Therapien BAG-KT entspricht.

2.5Was sind mögliche psychotherapeutische Zielsetzungen für Krebspatienten?

Bei psychischen und sozialen Belastungssituationen gibt es verschiedene Hilfsangebote und Therapien, die sich in wissenschaftlichen Studien als wirksam erwiesen haben.

Zielsetzungen psychoonkologischer Interventionen auf der körperlichen Ebene umfassen u. a. im Sinne einer erweiterten Vorbeugung:

  • die Linderung der Krankheits- und Behandlungsfolgen, z. B. von Schmerzen, Lernen des Umgangs mit Krankheitsfolgen und Behinderung bspw. Fatigue (siehe auch AYApedia Fatigue),

  • Unterstützung bei der Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit,

  • Förderung eines gesunden Lebensstils mit Bewegung und Sport (siehe auch AYApedia Bewegung und Sport),

  • Förderung gesunder Ernährung (siehe auch AYApedia Ernährung), und

  • Förderung eines gesunden Schlafes.

Zielsetzungen psychoonkologischer Interventionen auf der körperlichen Ebene umfassen u. a. im Sinne einer erweiterten Vorbeugung die Linderung der Krankheits- und Behandlungsfolgen, z. B. von Schmerzen, Lernen des Umgangs mit Krankheitsfolgen und Behinderung bspw. Fatigue (siehe auch AYApedia Fatigue), Unterstützung bei der Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit und Förderung eines gesunden Lebensstils mit Bewegung und Sport (siehe auch AYApedia Bewegung und Sport), gesunde Ernährung (siehe auch AYApedia Ernährung), und ein gesunder Schlaf. Zielsetzungen auf der psychologischen Ebene sind u. a. [1]:

  • Reduktion psychischer Symptome und psychischer Belastungen,

  • lernen, mit Ängsten und anderen seelischen Belastungen umzugehen,

  • Stärkung des Selbstwert- und Würdegefühls trotz körperlicher Veränderungen und (zunehmender) Abhängigkeit von anderen (bspw. Ärzten oder Eltern),

  • Akzeptanz der eigenen körperlichen Schwäche und verminderten Unabhängigkeit,

  • Aufzeigen neuer Lebensperspektiven nach Krebs,

  • Förderung von Zuversicht und Hoffnung (auch Alternativen zur Hoffnung auf Heilung),

  • Integration der Krankheitserfahrung in subjektiv schlüssige Lebenszusammenhänge, welche ich bis zur Krebserkrankung erfahren habe,

  • Mobilisierung eigener, innerer Ressourcen,

  • Würdigung von Stärken und Errungenschaften im Leben des Betroffenen,

  • Arbeiten an der Akzeptanz von Veränderungen und

  • Umgang mit Sterben, Tod, Trauer sowie Abschied nehmen.

2.6Was ich zu Psychotherapie in der gesetzlichen Krankenversicherung wissen sollte

Siehe Anhang A, Dokument PTV 10-1

2.7Welche psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Siehe Anhang B, Dokument PTV 10-2

2.8Was wäre neben einer klassischen Psychotherapie ergänzend noch zu empfehlen?

Als ergänzende, sogenannte komplementäre, Verfahren zur psychoonkologischen Begleitung oder psychotherapeutischen Behandlung gelten folgende:

  • Entspannungsverfahren (Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation, Phantasiereisen)

  • Künstlerische Therapien (Musiktherapie, Kunsttherapie, Tanztherapie)

  • Ergotherapie

  • Bewegungstherapie

  • Soziotherapie

Entspannungsverfahren sollten nach professioneller Anleitung und Übung in Eigenregie fortgeführt werden. Betroffene erhalten mit diesen Verfahren ein Instrument, das ihnen den Abbau emotionaler Anspannung ermöglicht (Selbstmanagement) und ihre Fähigkeit zur Emotionsregulation stärkt (Ressourcenorientierung). Im Vergleich zu intensiveren Formen der Psychotherapie sind Entspannungsverfahren niederschwellig und damit für beinahe jeden unabhängig von einem Behandlungsplatz einsetzbar (3,4). Das Autogene Training stellt dabei eine besonders gut wirksame Methode zur Entspannung und Linderung eigener Anspannung dar, siehe Anhang C, Kursmaterial AT.

2.9In welchen Lebensbereichen können Veränderungen oder Herausforderungen auftreten, denen ich mich stellen sollte?

Aufgrund der Entwicklungsdynamik im jungen Erwachsenenalter sind folgende Lebensbereiche zu nennen [56]:

  • Fertilität und Kinderwunsch, siehe auch AYApedia Fruchtbarkeit und Fertilitätserhalt

  • Mentale Gesundheit und Lebensqualität

  • Körperbild, Körpererleben, Körper-Selbst

  • Kognitiv-emotionale Leistungsfähigkeit („Chemobrain“)

  • Soziale Beziehungen und Familiendynamik (Gleichaltrige, Eltern, Partner)

  • Gesundheitsverhalten bzgl. Rauchen, Alkohol, Drogen, Ernährung, Sport/ Fitness, siehe auch AYApedia Bewegung und Sport

  • Sexualität

  • Konfrontation mit Sterblichkeit

  • Verzögerungen oder Verlust der Ausbildung/ des Arbeitsplatzes

  • Finanzielle Abhängigkeit, Risiko auf finanzielle Notlagen bzw. Verlust des gesetzlichen Systems der Absicherung

  • Vertrauen in die eigene Gesundheit und den eigenen Körper „der mich plötzlich im Stich gelassen hat“

  • Zukunftsängste, „weil plötzlich jede Entscheidung, eine für mein ganzes Leben sein kann“

2.10Was sind psychoonkologisch besonders herausfordernde medizinische Situationen von jungen Erwachsenen mit Krebs?

  • Wenn Betroffene besonders starke gefühlsmäßige Belastungen empfinden, wie bspw. Zukunftssorgen, Pessimismus, starke Stimmungsschwankungen/ Verunsicherung, Entscheidungsprobleme/Selbstzweifel, Schuldgefühle

  • Wenn Betroffene mit psychischen/psychosomatischen Symptomen reagieren, wie bspw. Schlafstörungen, Erbrechen, Übelkeit, Anspannung/Reizbarkeit, Antriebsminderung, suizidale Gedanken, körperliche Angstbeschwerden (Bluthochdruck, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Appetitlosigkeit), Schmerzen etc.

  • Wenn die Fortführung einer notwendigen Krebstherapie gefährdet ist, bspw. Therapieabbruch oder Ablehnung kurativer Verfahren aus Angst, verminderte Therapiedisziplin bzgl. Einnahme von Medikamenten, Umgang mit Nebenwirkungen, Organisation der ambulanten Nachsorge

  • Wenn in der biographischen Vorgeschichte psychische Erkrankungen oder andere als kritisch wahrgenommene Lebenssituationen vorliegen

  • Wenn soziale oder finanzielle Notlagen drohen, fehlende soziale Unterstützung seitens Gleichaltriger, neuerliches Erleben und Provozieren familiärer Konfliktsituationen mit den Eltern oder stellvertretend den behandelnden Ärzten.

2.11Wie kommt es, dass mich die behandelnden Ärzte manchmal nicht ganz verstehen oder ich vielleicht sogar den Eindruck bekomme, dass ich mit ihnen in sich zuweilen wiederholende Konflikte gerate?

Junge Erwachsene weisen bereits ohne die Diagnose Krebs aus entwicklungspsychologischer Sicht eine große Spannweite der persönlichen Identitätsentwicklung auf, siehe Abbildung 1. Die Jugend eines Menschen gilt als eine der Schlüsselphasen des Lebens. Die Jugendlichen stellen sich selbst in Frage, suchen zugleich Unabhängigkeit, Autonomie und altbekannte Nähe, versuchen sich in Identitäten und Ausformung eigener sozialer Rollen (bspw. Hip Hop, Hipster, Skater, Emo, Gothic). Das Erleben dieser Zeit wird durch biologische, kognitive und seelische Reifungsprozesse gestaltet. Mit diesen Prozessen sind vielfältige körperliche, psychische und soziale Veränderungen mit entsprechenden Entwicklungsaufgaben verbunden. Das auf den Arbeiten von Havighurst basierende entwicklungspsychologische Konzept geht davon aus, dass erst nach erreichter Bewältigung einer altersspezifischen Aufgabenliste der Reifungsschritt über die Schwelle in den nächsten Lebensabschnitt, also das Erwachsenenalter, erfolgen kann. Die Entwicklungsaufgaben gelten als grundlegende Anforderung der menschlichen Gemeinschaft, müssen allerdings als individuelle und ganz persönliche Beanspruchung verstanden und bewältigt werden [56789].

Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters

  • Aufbau neuer und reifer Beziehungen zu Gleichaltrigen

  • Übernahme der weiblichen/männlichen Geschlechtsrolle

  • Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers (wie wirke ich auf andere Menschen?)

  • Emotionale Unabhängigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen

  • Vorbereitung auf Partnerschaft, Ehe und Familienleben

  • Vorbereitung auf eine berufliche Karriere

  • Werte und ein ethisches System erlangen

  • Entwicklung einer Ideologie und Fähigkeit zur eigenen Meinungsbildung

  • Sozial verantwortliches Leben erstreben und erreichen

Abbildung 1: Psychosoziale Bereiche innerhalb der Entwicklungsaufgaben junger Erwachsener [10] 
Psychosoziale Bereiche innerhalb der Entwicklungsaufgaben junger Erwachsener 10
Quelle: Freund M, Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs 2017)

Im Fazit sind zur Beantwortung der Frage zwei Punkte zu benennen [56]:

  • Wenn junge Erwachsene mit einer Krebserkrankung konfrontiert sind, müssen sie sich zweierlei Beanspruchungen stellen:

    • dem entwicklungspsychologischen Prozess zwischen Frühadoleszenz und frühem Erwachsenenalter (siehe o.g. Entwicklungsaufgaben und Abbildung) und

    • dem Krankheitsbewältigungsprozess zwischen Krebsdiagnosefindung und verschiedenen möglichen Spätfolgen von Erkrankung und Tumortherapie.

  • Das körperliche und seelische Erleben und die persönliche Bewältigung der existentiellen Abhängigkeiten durch den Krebs und die Krebsbehandlung stehen in einem absoluten Gegensatz zum Charakter der Lebenssituation eines gesund aufwachsenden jungen Erwachsenen.

Kurz gesagt, gerade als Jugendlicher und junger Erwachsener hat man für Krebs schlichtweg „keine Zeit und keinen Kopf“. Oder wie es junge Erwachsene nach der Krebsdiagnose manchmal aussprechen „Der Krebs passt bei mir überhaupt nicht rein!“ In einer Zeit, wo es vor allem um Abgrenzung, Finden des Selbst und einer primär eigenen Meinung und Identität geht, gerate ich zwangsläufig in Konflikt „mit der Erwachsenenwelt“ in der Klinik wie es folgende Zitate von AYA-Krebspatienten belegen:

  • „Ich fühle mich hier nicht wohl bei den ganzen Alten, ich kriege gleich Gänsehaut, wenn ich daran denke, dass ich mal mit solchen im Zimmer sein müsste.“

  • „Ich bin hier drinnen und die anderen sind da draußen.“

2.12Zur Funktion der Eltern bei jungen Erwachsenen mit und nach Krebs

Die Behandlung einer Krebserkrankung hat, neben der Bedeutung für den Patienten, auch stets Einfluss auf den Alltag und die Beanspruchung der familiären Angehörigen [5]. Für Adoleszente und junge Erwachsene gelten häufig Eltern, neben aktuellen Partnern, als primäre familiäre Ansprechpartner. Insbesondere wird zumindest eine innere elterliche Haltung aus Obhut und Verantwortung von den Kindern, den jungen Erwachsenen, oft wieder erwartet oder gar gebraucht. Die Eltern nehmen in der Zeit der Tumortherapie und Nachsorge eine echte Schlüsselposition für ihre kranken „Kinder“ hinsichtlich emotionaler Regulation und handlungsorientierter, medizinrelevanter Unterstützung ein. Sie werden ganz alltagsnah wieder gebraucht, wie zum Beispiel Unterstützung beim Management von Nebenwirkungen/Spätkomplikationen oder dem Erhalt selbstständiger Alltagsbereiche (bspw. Finanzen, Ausbildung, Wohnung). Sie nehmen beinahe unabhängig vom tatsächlichen Alter der AYA-Patienten ihre alten Positionen und Rollen wieder ein. AYA-Eltern können auch mittels erneuter existenzieller Rahmensicherung an einer langfristigen Sicherung des onkologischen Behandlungserfolgs mitbeteiligt sein. Mittlerweile wissen wir aus ersten Studien, dass Eltern häufig selbst psychisch belastet sind. Sie sind durch den Schock der Krebsnachricht emotional schwer getroffen, fühlen sich hilflos, ohnmächtig und körperlich krank. Seelische Belastungen der Eltern gelten als anerkannter Risikofaktor für den Erfolg der Krebsbehandlung. Wissenschaftliche Untersuchungen familiärer Beanspruchungsfelder im Alltag zeigten einen Zusammenhang zwischen der psychischen Belastung junger Erwachsener mit Krebs und wahrgenommenen familiären Konfliktsituationen.

3Tipps und Tricks

3.1„Ich verstehe derzeit manchmal „einfach nur Bahnhof“ und traue mich nicht richtig in der Visite vor allen Mitarbeitern ein paar Dinge nachzufragen. Was soll ich tun?“

Auch wenn nach dem Feststellen einer Krebserkrankung „kein Stein mehr auf dem anderen steht“, möchten wir Sie ermutigen, jeden Zweifel, Gedanken oder empfundene Ungewissheit anzusprechen. Natürlich ist das in einem Vier-Augen-Gespräch häufig eher machbar als in der „großen Visite“. Fatal wäre nur, sich gar nicht zu trauen, eigene Gedanken und Zweifel anzusprechen. Fragen Sie nach der Möglichkeit zu einem Gespräch mit einer Psychoonkologin oder einem Psychoonkologen bei den behandelnden Ärzten nach.

3.2„Ich komme nachts nicht zur Ruhe, obwohl ich mir gar keine Gedanken weiter mache. Was ist los mit mir?“

Die Mitteilung einer Krebserkrankung oder die Entscheidung für eine bestimmte Krebsbehandlung bedeuten Stress für den Menschen. Auch wenn wir das selbst für uns nicht immer bemerken, laufen die körperlichen und seelischen Systeme zur Verarbeitung der neuen Situation allesamt auf Hochtouren. So ist’s unangenehm, aber eben auch ganz menschlich, genau in dieser Zeit nur schwer in den Schlaf oder durch die Nacht zu kommen. Entspannungsverfahren wie zum Beispiel Progessive Muskelrelaxation, Autogenes Training (siehe Kapitel 6.3 Anhang C) oder auch Phantasiereisen können zu einer Linderung der Schlafstörungen beitragen.

Bei vielen Betroffenen zeigt sich dieser Stress auch dadurch, dass Sie Tätigkeiten, die Ihnen sonst Freude bereitet haben (bspw. Musik hören, Buch lesen), nicht mehr angehen. „Zurzeit mag ich nicht. Mir ist alles einfach zu viel.“ Diese Vielzahl von neuen Informationen, Entscheidungen und körperlichen wie seelischen Eindrücken (bspw. mittels sehen, riechen, schmecken, hören) sorgen für Überlastung und Überforderung. Unser Gehirn fährt in diesen Zeiten auf „Krisenbetrieb“. Schlafstörungen können ein Indiz dafür sein.

3.3„Ich habe an sich eine ganze Reihe guter Freunde, nur melden die sich gerade kaum. Was hat das zu bedeuten?“

Die Krebserkrankung katapultiert nicht nur einen selbst, sondern auch die nächsten Angehörigen und Freunde, aus einem wohlbekannten Lebensgefühl. Diese mir familiär oder freundschaftlich verbundenen Menschen geraten, aufgrund meiner Krebserkrankung, plötzlich selbst in die Notwendigkeit von Krankheitsbewältigung. Einerseits möchten sie mir beistehen, mich unterstützen und sich um mich sorgen. Andererseits sind aber gerade die gleichaltrigen Freunde, wie ich, im jungen Erwachsenenalter. Auch sie sind, als Freunde eines Krebsbetroffenen, den typischen Beanspruchungen von Krebs im jungen Erwachsenenalter damit ein Stück weit ausgesetzt. Jung und das Krebskrank-Sein miterleben, das sind aber eben echt zwei so was von verschiedene Welten, da braucht’s viel innere Kraft, die sich manch einer im Freundeskreis nicht so recht zutraut. Plötzlich soll ich mit dem krebskranken Freund über „alltägliche Dinge“ quatschen. Nur fällt das manchmal eben wirklich schwer, weil mein Alltag ist nicht mehr der meiner Freunde. Ich würde den- oder diejenige, wenn sie mir wirklich wichtig sind, kurz darauf ansprechen, vielleicht auch per Chat. Dass es MIR als Krebspatient schwer fällt, sie anzusprechen obwohl ICH diesen Krebs habe. Und vielleicht geht’s ihm oder ihr ja ganz ähnlich. Allein darüber könnte man miteinander wieder in Kontakt kommen.

4Weiterführende Links und Informationen

4.1Wo erhalte ich aktuell in Deutschland eine auf AYA-Krebspatienten und deren Familien spezialisierte ambulante psychoonkologische Versorgung?

Die Angebote sind regional sehr unterschiedlich. Beispiele:

5Literaturverzeichnis

  1. Mehnert A: Psychoonkologie. Der Onkologe 19:781–788, 2013. https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-662-44835-9_9

  2. Koehler M et al.: Zukunft jetzt – Implementierung eines IT-gestützten Distress-Screenings. Expertenbasierte Konsensempfehlungen zum Einsatz in der onkologischen Routineversorgung. Der Onkologe 23:453–461, 2017. https://www.springermedizin.de/zukunft-jetzt-implementierung-eines-it-gestuetzten-distress-scre/12212556

  3. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten, Langversion 1.1, 2014, AWMF-Registernummer: 032/051OL, http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Leitlinien.7.0.html , (Stand: April 2014)

  4. Patientenleitlinie Psychoonkologie-Psychosoziale Unterstützung für Krebspatienten und Angehörige. Herausgeber „Leitlinienprogramm Onkologie“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V., der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. und der Stiftung Deutsche Krebshilfe. Februar 2016, S.121, 2016.

  5. Richter D, Koehler M, Friedrich M et al.: Psychosocial interventions for adolescents and young adult cancer patients: A systematic review and meta-analysis. Crit Rev Oncol Hematol 95:370-386, 2015. DOI:10.1016/j.critrevonc.2015.04.003

  6. Koehler M: Adoleszente und junge Erwachsene mit Krebs - Psychoonkologische Aspekte der medizinischen Versorgung Onkologe 21:953–958, 2015. https://www.junge-erwachsene-mit-krebs.de/files/onkologe_aya_michael.koehler_med.ovgu.de

  7. Havighurst RJ: Youth. Yearbook of the National Society for the Study of Education. Chicago: University of Chicago Press 1974.

  8. Walter U, Liersch S, Gerlich MG: Die Lebensphase Adoleszenz und junge Erwachsene – gesellschaftliche und altersspezifische Herausforderungen zur Förderung der Gesundheit. In: KKH-Allianz/MHH Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (Hrsg) Weißbuch Prävention. Gesund jung?! Herausforderung für die Prävention und Gesundheitsförderung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Berlin: Springer 3–30, 2011.

  9. Hurrelmann K: Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim: Juventa 1994.

  10. Freund M, Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs. Besondere Herausforderung für eine ganzheitliche Onkologie: Junge Erwachsene mit Krebs. Journal Onkologie 2017;10, 2017.

  11. Koehler M. Back to the future: Psycho-oncological specifics of adolescents and young adults with cancer. Nervenheilkunde 36: 972–979, 2017. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-0038-1636955

  12. Quidde J, Koch B, Salchow J et al.: Das CARE-for-CAYA-Programm. Präventionskonzept für junge Menschen nach Krebserkrankung. Forum. Das offizielle Magazin der Deutschen Krebsgesellschaft e.V.. 32:479-484, 2017. https://fis-uke.de/portal/de/publications/das-careforcayaprogramm-praventionskonzept-fur-junge-menschen-nach-krebserkrankung(63b4b5a1-0730-48e9-badf-1f5144697f62).html

6Anhang

6.1Anhang A

6.2Anhang B

6.3Anhang C

7Gender

Die in diesem Text verwendeten Genderbegriffe vertreten alle Geschlechtsformen.

8Anschriften der Experten

apl. Prof. Dr. med. Inken Hilgendorf
Universitätsklinikum Jena
KIM II
Abt. für Hämatologie und Internistische Onkologie
Am Klinikum 1
07747 Jena
Dr. rer. medic. Michael Köhler
Praxis für Psychoonkologie
Hegelstr. 4
39104 Magdeburg
Dr. rer. medic. Diana Richter
Universitätsklinikum Leipzig AöR
Medizinische Psychologie & Medizinische Soziologie
Forschungsgruppe AYA Leipzig
Philipp-Rosenthal-Str. 55
04103 Leipzig

9Erklärungen zu möglichen Interessenkonflikten

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Reference:

Quellenangabe:

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